Die große Pest von Marseille (1720-1722)

25.05.2020 Astrid Jordan

Heute vor genau 300 Jahren, am 25. Mai 1720, sanken die Anker des Handelsschiffes Grand Saint Antoine auf den Grund einer Bucht der Insel Pomègues vor der Küste der französischen Handelsstadt Marseille. In den Monaten zuvor hatte es in den Häfen des östlichen Mittelmeeres orientalische Stoffe, aber auch z. B. Pottasche für die Seifenherstellung geladen, wertvolle Handelswaren, die nun mit Gewinn auf der anstehenden Messe verkauft werden sollten.

Inselgruppe vor Marseille

Abb. 1: Inselgruppe vor Marseille, links Pomègues, in der Mitte das Château d’If

Hier vor der kargen Felseninsel, in Nachbarschaft zu dem berüchtigten Gefängnis des Château d’If, mussten alle ankommenden Schiffe ihre Papiere überprüfen lassen, bevor sie in den wenige Kilometer entfernten Hafen einlaufen durften.

Hafen von Marseille im Jahr 1760

Abb. 2: Der Hafen von Marseille im Jahr 1760. Im Vordergrund liegen mehrere Schiffsanker, rechts am Ufer mit den zwei Ziergiebeln das barocke Rathaus. (Bild: Rijksmuseum Amsterdam)

Eine genau festgelegte Prozedur spielte sich ab, bei der der Kontakt zur Besatzung und zu den Waren möglichst vermieden werden sollte, um nicht etwa gefährliche Krankheiten einzuschleppen. Die leidvolle Erfahrung der Seuchenausbrüche in den vorangegangenen Jahrhunderten, insbesondere der Pest seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, hatte zur Entwicklung der Regularien geführt. Ohne das Wissen über die Ansteckungswege und ohne Möglichkeit, eine Krankheit vor der Ausprägung äußerlicher Symptome zu erkennen, waren die Beamten der Gesundheitsbehörde auf die Aussagen der Besatzung und die amtlichen Schriftstücke angewiesen. Wenn diese nicht verlässlich waren, brach das ausgefeilte Präventionssystem in sich zusammen. An Bord der Grand Saint Antoine waren bereits während der Rückreise erst ein Passagier und dann mehrere Besatzungsmitglieder erkrankt und verstorben. Hinweise auf die Pest gab es ausreichend, dennoch wurde dies verschwiegen und andere Krankheiten genannt, die Zertifikate gefälscht. Der Grund hierfür war der nahende Termin der Messe, bei der die Waren abgesetzt werden sollten. Ein verlängerter Zwangsaufenthalt in der Quarantänebucht hätte die Gewinnaussichten zunichte gemacht. Die Waren wurden zur Quarantäne in das Lazarett gebracht. Dieser Transport führte dann zur Katastrophe: Die Träger der Ladung brachten unbemerkt den Erreger – vermutlich über Flöhe oder Ratten – mit in die Stadt. Im Juni begann sich die Seuche schnell auszubreiten und erfasste bald alle Stadtteile. Zehntausende Einwohner starben.

 

Aquarellzeichnung zur Pest von Marseille

Abb. 3: Aquarell von Jean-Marie Gassend zum Ausbruch der Pest von 1720

Die Obrigkeit war bemüht, der Sache Herr zu werden und einen geordneten Umgang mit der Situation aufrecht zu erhalten. Die Masse an Kranken und Verstorbenen stellte aber eine enorme Herausforderung dar. Der Maler Michel Serre, selbst Gesundheitskommissar, hielt auf drei monumentalen Gemälden die Schrecken der Pest in Marseille fest (s. u.), aber auch die tatkräftigen Vertreter von Staat und Kirche. Der Bürgermeister bekam für sein Handeln Lob auch aus Paris. Dass er als Miteigentümer der Grand Saint Antoine und ihrer Ladung selbst ein Interesse an der verfrühten Entladung hatte und wahrscheinlich nur durch seinen Einfluss die Umgehung der Quarantäneregeln möglich gewesen ist, wurde bei Seite gelassen. Inhaftiert wurde der Kapitän, der natürlich auch mitschuldig war, aber eben doch nicht alleine verantwortlich. Vermutlich, weil man kein weiteres Aufheben um die Sache haben wollte, wurde Jean-Baptist Chataud 1723 ohne je richtig verurteilt oder freigesprochen geworden zu sein, aus dem Chateau d’If entlassen. Das Handelsschiff wurde aus Sicherheitsgründen vor der Küste versenkt.

Anker im Foyer des Museums in Herne

Abb. 4: Anker der Grand Saint Antoine im Museum Herne (Bild: LWL)

Den Anker und einige weitere Stücke barg ein Forschungsteam Anfang der 1980er-Jahre, nachdem das Wrack wiederentdeckt worden war.

Diese einmalige Geschichte rund um den letzten großen Pestausbruch in Westeuropa sollte auch Teil der Sonderausstellung „Pest!“ im LWL-Museum für Archäologie werden. Die Exponate zur großen Pest liegen heute im Musée d’Histoire de Marseille und sind Teil der Dauerausstellung. Die Gespräche rund um die Ausleihe fanden in Marseille statt, wo uns die Kolleginnen und Kollegen sehr freundlich empfingen und wir alle Details besprechen konnten.

Museum der Geschichte in Marseille

Abb. 5: Musée d’Histoire de Marseille (Bild: LWL)

Das Museum selbst befindet sich in einem großen Multifunktionsbau an den Grabungsflächen des antiken römischen Hafens der Stadt. Es liegt direkt am Cours Belsunce, der Prachtstraße der Stadterweiterung des 17. Jahrhunderts, und zugleich einem der bekanntesten Orte des Pestgeschehens.

Cours Belsunce in Marseille, die Prachtstraße der Stadterweiterung des 17. Jahrhunderts

Abb. 6: Prachtstraße Cours Belsunce in Marseille (Bild: LWL)

Die heute beliebte Shoppingmeile mit regem Verkehr bot 1720 ein Bild des Grauens mit hunderten Erkrankten und Verstorbenen, das in einem über 3 x 4 Meter großen Gemälde verewigt wurde. Ursprünglich einfach „Cours“ genannt, erhielt die Straße später zusätzlich den Namen des Bischofs von Marseille, der sich während der Pest für die Erkrankten eingesetzt hatte.

Rathaus von Marseille

Abb. 7: Altes Rathaus von Marseille (Bild: LWL)

Andere Schauplätze der Monumentalbilder der Pest von Michel Serre sind der alte Hafen mit dem heute noch vorhandenen barocken Rathaus und die Kaianlagen im Westen der Altstadt, wo sich heute allerdings modernere Bebauung findet.

Pestgeschehen „an der Tourette“, wie es auch Michel Serre gemalt hatte in einem Stich von 1727

Abb. 8: Pestgeschehen „an der Tourette“, wie es auch Michel Serre gemalt hatte in einem Stich von 1727 (Rijksmuseum Amsterdam)

Foto vom Esplanade de la Tourette in Marseille

Abb. 9: Esplanade de la Tourette (Bild: LWL)

Die Pest blieb 1720-22 nicht auf die Hafenstadt beschränkt, sie erfasste schnell auch die Umgebung und dann die ganze Provence. Die französische Regierung beorderte große Truppenkontingente in den Süden, die die Region abriegelten und so die Ausbreitung verhinderten. Auch die angrenzenden Staaten waren in großer Sorge und erließen Verordnungen zum Schutz vor der Seuche.

Dekret des Kurfürsten von der Pfalz über Maßnahmen wegen der Pest in der Provence

Abb. 10: Dekret des Kurfürsten von der Pfalz über Maßnahmen wegen der Pest in der Provence

Auch das päpstliche Territorium um Avignon an der Rhône versuchte sich durch Abriegelung vor der herannahenden Krankheit zu schützen. Die Grenzen wurden geschlossen und zur Sicherheit auch gleich befestigt. So wurde in großer Eile eine Mauer entlang der Grenze quer über die Karsthöhen östlich des Rhônetales gezogen und mit Wachen versehen. So sollte jeder Kontakt zum „verseuchten“ Gebiet vermieden werden. Als dann doch die Pest nach Avignon kam, während sie in den umliegenden französischen Gebieten bereits abflaute, besetzten französische Truppen die Sperre und kehrten die Stoßrichtung um.

Die Reste dieser Grenzbefestigung, einer Trockenmauer aus dem anstehenden Kalkstein, finden sich heute noch an vielen Stellen auf den Höhen zwischen den Schluchten der Nesque und der Ortschaft Cabrières d’Avignon am Übergang zum Tal des Coulon. Einige Teilstücke wurden zur besseren Veranschaulichung wieder erhöht.

Dr. Stefan Leenen, Kurator LWL-Museum für Archäologie